Jan Frederichs klärt beim Angestelltentag über das Direktionsrecht auf
Probleme durch Mangel an Akzeptanz für die Spezifik anderer Berufsgruppen
Anlässlich des Online-Events, das die SABP in Kooperation mit der Sektion Klinische Psychologie und dem VPP am 28.August unter dem Titel „Neue Herausforderungen – und dann auch noch Corona“ veranstaltet, sprach Christa Schaffmann mit Jan Frederichs, einem der Referenten, über innerbetriebliche Vertraulichkeit und Direktionsrecht.
In welchen Zusammenhängen kommt es zu Konflikten mit Arbeitgebern, die Psychologen gegenüber auf ihrem Direktionsrecht bestehen? Betrifft das bestimmte Arbeitsfelder oder liegen die Ursachen woanders?
Es geht weniger um Arbeitsfelder als vielmehr um Strukturen. Überall, wo Psycholog*innen in Teams arbeiten, beobachten wir Konflikte häufiger.
Worauf führen Sie das zurück?
Es besteht geradezu unvermeidlich ein Spannungsfeld zwischen der Vertraulichkeit aus der Berufsrolle heraus auf der einen und der Zugehörigkeit zum Team auf der anderen Seite. Die Teams haben bisweilen Erwartungen, die bei Wahrung der Vertraulichkeit nur schwer oder gar nicht zu erfüllen sind.
Erwartungen welcher Art?
Die Teammitglieder z.B. einer Pflegeeinrichtung wollen regelmäßig über die Gespräche mit den Patienten, deren Stimmungslage, eventuell erwähnte Animositäten und absehbare Konflikte informiert werden; jedenfalls dann, wenn es für ihre Arbeit von Belang ist. Das ist Psycholog*innen jedoch aufgrund der Schweigepflicht grundsätzlich untersagt.
Könnten Teammitglieder theoretisch den Psycholog*innen Vertraulichkeit zusichern? Würde das etwas ändern?
Nein. Diese Zusicherung entbindet Psycholog*innen nicht von ihrer Schweigepflicht.
Verstehen die verschiedenen im Team vereinten Professionen den Begriff Vertraulichkeit gleich oder wird er von unterschiedlichen Disziplinen jeweils anders interpretiert?
Letzteres kommt vor. Für Psycholog*innen ist Vertraulichkeit ein klar definierter Basisbegriff, der für ihre Arbeit mit Klienten und Patienten gilt. Er bedeutet, dass – wenn es nicht konkret anders lautende Vereinbarungen gibt – Vertraulichkeit kraft Berufszugehörigkeit quasi versprochen ist. Bei Ärzt*innen oder Anwält*innen gibt es ein ganz ähnliches Verständnis des Begriffs; auch sie unterliegen der beruflichen Schweigepflicht. Für andere Berufsgruppen ist es oft schwer zu akzeptieren, dass sich die Vertraulichkeit nicht automatisch auf das Team erstreckt. Und an diesem Punkt stellt sich dann die Frage, ob ein Arbeitgeber auf Basis des Direktionsrechts Informationen einfordern kann. Das wird er tun, wenn er die Wahrung der Vertraulichkeit durch Psycholog*innen als eine Meinungsäußerung interpretiert, die er als Arbeitgeber nicht respektieren müsse. Dann kommt es zu Konflikten.
Wieso reicht es nicht, auf die für Psycholog*innen geltenden Vorschriften hinzuweisen?
Weil die Rechtslage im Einzelfall nicht so einfach ist. Ich gebe Ihnen einBeispiel:Im Gesprächzwischen einem Patienten und einer Psychologin äußert Ersterer unerwartet Dinge, die er als Geheimnis vor dem Team versteht und die Vertraulichkeit gegenüber dem Team erwartet.
Wenn ihm diese Vertraulichkeit zugesagt worden ist, könnte ein Verstoß seitens der Psychologin zu einer Anzeige gegen sie führen. Die Verletzung der Schweigepflicht ist schließlich eine Straftat.
Was für unerwartete Dinge können das sein?
Denken Sie an betreute Wohnungseinrichtungen, in denen psychologische Dienstleistungen erbracht werden. Zwischen einzelnen Bewohnern auf der einen und Pflege- bzw. Betreuungspersonal auf der anderen Seite kann es zu Konflikten kommen. Da leben Menschen nah beieinander, die sich das in den meisten Fällen ja nicht ausgesucht haben. Spannungen sind unvermeidbar. Dort untergebrachte Bewohner nehmen in solchen Einrichtungen die Vertraulichkeit besonders ernst. Sie haben oft keine Privatsphäre. Der Psychologe/die Psychologin ist für manche der einzige Mensch für ein vertrauliches Gespräch. Wem, wenn nicht ihm/ihr kann er seinen Ärger, womöglich seinen Hass, den er gegenüber einem Angestellten hegt, offenbaren? In einem solchen Gespräch können gegebenenfalls sogar Gewaltphantasien geäußert werden; manchmal sogar mit dem Nachsatz: „Das müssen Sie natürlich für sich behalten!“
Für den Psychologen/die Psychologin ist das eine schwierige Situation: Er/sie ist Geheimnisträger, hat die strafbewehrte Pflicht der Vertraulichkeit. Auf der anderen Seite ist er/sie Teil eines Teams, das geschützt werden muss und das auch nicht richtig agieren kann, wenn es nicht informiert wird.
Ist nicht jeder, der von einer geplanten bzw. erwogenen Straftat erfährt, verpflichtet sie zu melden?
In zugespitzten Fällen ist es möglich, die Schweigepflicht zu brechen. Abgesehen von der seltenen Anzeigepflicht bestimmter geplanter schwerer Kapitalverbrechen gibt es den sogenannten rechtfertigenden Notstand. Wenn eine Gefahr für ein höherrangiges Recht besteht, dann darf die Schweigepflicht gebrochen werden. Aber das ist eine hohe Hürde. Die Problemfälle liegen meist darunter. Aufsichtspersonen beschweren sich im Nachhinein bisweilen, dass sie nicht informiert worden sind; sonst hätten sie anders handeln und ggf. Schlimmes verhindern können. Den Vorwurf „Wofür sind Sie denn da, wenn Sie das nicht im Team mitteilen?“ mussten sich schon einige Psycholog*innen in solchen Fällen anhören. Was Teamleistung ist und was zur Funktionsfähigkeit des Teams gehört, wird von anderen Berufsgruppen durchaus anders bewertet als von den Psycholog*innen, die die Vertraulichkeit anbieten und auch anbieten müssen.
Verlassen wir das betreute Wohnen und kommen zu einer anderen Frage. Wer verfügt über das Direktionsrecht? Ist es der Abteilungsleiter oder jemand auf einer noch höheren Ebene? Und wissen das alle Beschäftigten?
Das Direktionsrecht ist klassisches Arbeitsrecht. Der Arbeitgeber hat dieses Direktionsrecht. Welche Person das im Einzelfall ist, kann sich je nach Größe und Struktur der Einrichtung ergeben, ist aber meist allen Beschäftigten bekannt. Ein Team kann dieses Recht nicht innehaben. Der Vorgesetzte kann sich der Meinung des Teams anschließen und mehr Informationen einfordern, muss das aber nicht. Wenn jedoch kein rechtfertigender Notstand vorliegt, darf der Psychologe/die Psychologin die Auskunft verweigern unter Hinweis auf die Strafbewehrung.
Die Frage ist: Kann er/sie auch unter juristischem Aspekt einschätzen, ob ein rechtfertigender Notstand vorliegt. Arbeitgeber vertreten in solchen Fällen gern die Auffassung, das zu beurteilen, sei allein ihre Aufgabe. Sie wollen zuerst die Informationen, um dann unter Umständen herauszufinden, dass sie sie gar nicht hätten bekommen dürfen. Aus meiner Sicht ist das nicht zulässig; es würde den Geheimnisschutz aushebeln.
Aber wer entscheidet am Ende über das Vorliegen der Schweigepflicht?
Äußerstenfalls die Arbeits- oder Strafgerichtsbarkeit. Aber natürlich wollen das alle Beteiligten vermeiden. Nichtsdestotrotz kann man Arbeitgebern nicht verbieten, anderer Meinung darüber zu sein, ob im gegebenen Fall Schweigepflicht besteht oder nicht. Seine Meinung kann auch an Gewicht gewinnen, wenn er sich auf Rechtsauskunft beruft. Daraufhin seine Auffassung als Arbeitsanweisung durchzusetzen, erscheint naheliegend – ist aber trotzdem nicht überzeugend. Denn die berufliche Schweigepflicht impliziert über den Geheimnisschutz, dass nur die Verpflichteten über die Informationen verfügen, die nötig sind, um Voraussetzungen der Schweigepflicht einschätzen zu können. Gerade die Berufsbezogenheit macht die Schweigepflicht zu einer persönlichen Pflicht, die nicht vom arbeitsrechtlichen Kontext derart überlagert ist, dass der Arbeitgeber diese Entscheidung für den betroffenen Arbeitnehmer treffen kann.
Kommt es häufig vor, dass Arbeitgeber sich juristischen Beistand bei Differenzen dieser Art holen?
Das kommt meist dort vor, wo es Rechtsabteilungen gibt, besonders in Behörden. Auch Schulpsychologen haben diesbezüglich schon einige Erfahrungen gemacht. Während sie darauf bestehen, dass ihre Dienstleistung ein Angebot an die betroffenen Schüler ist, vertreten Schulleiter oder Lehrer häufig die Ansicht, Psycholog*innen würden zur Gefahrenabwehr hinzugezogen unddürften deshalb nicht auf Vertraulichkeit beharren. Da fehlt das Rollenverständnis im Vorhinein. Zu Beginn der Zusammenarbeit sollte geklärt welche Erwartung die zuständige Behörde an Psycholog*innen hat. Wenn es z.B. um eine Art Profiling geht, würde Vertraulichkeit nie versprochen. Das wäre dann aber eher die Aufgabe von Polizei- als von Schulpsycholog*innen.
Wie können Psycholog*innen sich bei Konflikten mit dem Direktionsrecht verhalten und wo gegebenenfalls Rat und Hilfe holen?
Zunächst könnten sie anonymisiert über das sprechen, was ihnen offenbart worden ist. Das erweist sich oft als schwierig, wenn nicht unmöglich, aufgrund von Dienst- bzw. Terminplänen. Extern können sie sich anonymisiert beraten lassen. BDP-Mitglieder wenden sich in solchen Fällen an Kolleg*innen, Supervisor*innen oder auch an mich. Die einzig richtige Lösung gibt es manchmal nicht. Entscheiden muss jeder am Ende selbst und mit dieser Entscheidung auch leben können.
Ich habe eine befreundete Führungskraft gefragt, wie sie sich in einem Konfliktfall beim Thema Schweigepflicht versus Direktionsrecht verhalten würde. Sie sagte, das sei eigentlich kein Problem, wenn man bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrages darauf hinweist, dass eine Schweigepflicht in ihrem Team nicht akzeptiert würde bzw. unter welchen Bedingungen sie sie ausnahmsweise zulasse. Niemand sei gezwungen, die Arbeit dann anzunehmen.
Alle meine vorherigen Antworten waren eher retrospektiv; ich finde diesen Ausgangspunkt verständnisfördernd: Grundsätzlich besteht die Vertraulichkeit unter vier Augen und ausgehend davon sind Ausnahmen und Relativierungen zu prüfen. Aber diese Ausnahmen sind im Alltag von angestellten Berufsgeheimnisträger*innen erheblich. Wenn man nämlich nicht rückblickend, sondern in die Zukunft gerichtet, z.B. mit Vorgesetzten und dem Team die berufliche Schweigepflicht erörtert, geht es faktisch nicht um den Schutz bereits mitgeteilter Geheimnisse, sondern um die Planung und Gestaltung der Rahmenbedingungen, unter denen Geheimnisse mitgeteilt werden können – oder eben nicht. Die Schweigepflicht schützt das informationelle Selbstbestimmungsrecht, und darauf kann verzichtet werden, was üblicherweise in Schweigepflichtsentbindungen festgehalten wird. Und hierbei kann ein Arbeitgeber durchaus sein Direktionsrecht in der Form ausüben, dass er Psycholog*innen anweist, die psychologische Dienstleistung unter die Bedingungen zu stellen, dass die Klient*innen bestimmte vorformulierte Schweigepflichtsentbindungen unterzeichnen.
Das klingt fast wie ein Salto rückwärts, also doch kein Geheimnisschutz?
Nicht unbedingt. Aber ja, schlimmstenfalls weist ein Arbeitgeber eine/n angestellte/n Psycholog*in rücksichtslos an, die psychologische Dienstleistung unter die Bedingung zu stellen, dass per Schweigepflichtsentbindung sämtlicher Geheimnisschutz ausgehebelt wird, also dem Team und womöglich noch Externen, Auftraggebern, eventuellen Behörden usw. Bericht erstattet wird.
Kann das rechtmäßig sein ?
Theoretisch ja und in seltenen gefahrgeneigten Ausnahmefällen kann das sogar nachvollziehbar sein, wobei man sich dann schon fragt, wie Psycholog*innen unter diesen Rahmenbedingungen noch ihre Kompetenzen zur Anwendung bringen können.
Aber nun schnell weg von dieser Ausnahme. Es ist nämlich möglich und auch nicht so selten, dass mit verständigen Vorgesetzten und in einem aufgeschlossenen Team sehr wohl die Bereitschaft zur Anerkennung besteht, dass Psycholog*innen den Klient*innen die mit ihrer Berufsrolle in Aussicht gestellten Vertraulichkeit gegenüber dem Team und Vorgesetzten auch tatsächlich wahren können. Es geht also um die Überlegung der Ausnahme, wie über Schweigepflichtsentbindung sinnvolle und angemessene Information von Team und Vorgesetzten den Klient*innen transparent gemacht werden und dann auch verlangt werden können.
Wenn das mit Team und Vorgesetzten gut diskutiert und überlegt worden ist, entsteht auch deren Bereitschaft darauf zu vertrauen, dass die Psycholog*innen auch in schwierigen Einzelfällen die bestmögliche Entscheidung treffen, ohne dass Team und Vorgesetze einzelne Geheimnisse erfahren wollen.
Ist diese gute Lösung bereits Alltag ?
Mal mehr, mal weniger. In stärker hierarchischen Strukturen wird leider eine Erörterung mit Psycholog*innen und Team übersprungen. Früher häufiger, heute etwas seltener hört man die knappe Verallgemeinerung: „Wir sind ein Team, wir funktionieren als ein Team, dass wissen auch alle Patienten, also ist es selbstverständlich, dass es da keine geheime Extra-Wurst für Psycholog*innen gibt“. Es wird unterstellt, dass die Patient*innen keine Vertraulichkeit erwarten, also wird versäumt, eine Schweigepflichtsentbindung zu dokumentieren. Diese Unterlassung zwingt in manchen Fällen, im Nachgang mühevoll mit „konkludenten Schweigepflichtsentbindungen“ hinterherzurudern. Auch wenn Gerichte da bisweilen zustimmen, ist das keine gute Lösung.
Genügen die 2016 novellierten Ethischen Richtlinien des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie noch den Ansprüchen einer sich rasch verändernden Arbeitswelt?
Die Digitalisierung hat, verstärkt durch Corona, stark zugenommen. Das lässt einige Probleme stärker aufscheinen; sie sind aber nicht neu. Die Ethischen Richtlinien sind diesbezüglich bereits relativ fortschrittlich.
Allerdings scheinen mir Psycholog*innen insbesondere angesprochen, den Datenschutz als Teil der Vertraulichkeit zu leben und zu fördern. Ich habe den Eindruck, dass einige von ihnen in der Debatte über Digitalisierung versus Datenschutz den anstrengenden Job der Datenschützer*innen nicht bereit sind zu übernehmen, zu reizvoll scheinen die neuen digitalen Möglichkeiten.
Datenschutz wird im Allgemeinen verstanden als Schutz der Daten durch Angriffe von außen und nicht als Schutz von Daten innerhalb des Unternehmens oder der Behörde – abgesehen von Arbeitnehmerdatenschutz. Ist das ein Fehler?
Psychologische Beratungsdaten hat man nicht unbedingt vorne auf dem Schirm. Staatliche Einrichtungen, die im Datenschutz eine große, verantwortungsvolle Aufgabe sehen, haben eine nachvollziehbare Tendenz zur Zentralisierung, weil – so ihr Argument – dann die gesamte Kompetenz auf diesem Gebiet geballt eingesetzt werden könne. Dabei gerät etwas aus dem Blick, dass der Schutz psychologischer Beratungsdaten auch innerhalb der jeweiligen Einrichtung gewährleistet werden muss. Das bedeutet: Verschlüsselung und ein enges durchdachtes Zugriffsrechtemanagement auch innerhalb zentraler Strukturen in einzelnen Fachbereichen wie den psychologischen ist notwendig. Misst man diesem Thema jetzt nicht die erforderliche Bedeutung bei, muss im Nachhinein aufwendig nachjustiert werden.Danke für das Gespräch.