Was bestimmt, wie prekär ich mich fühle?

Neue Studie zu Ungleichheitswahrnehmungen und ihren Folgen

Finanzielle Sorgen und Ängste vor dem Verlust des Arbeitsplatzes sind bei einfachen Arbeitern und Angestellten, Geringqualifizierten sowie Kindern aus Arbeiterfamilien höher als bei Angehörigen der Mittelschicht. In ihrer Studie „Wahrnehmung der eigenen Prekarität. Grundlagen einer Theorie zur sozialen Erklärung von Ungleichheitswahrnehmungen“ zeigt Andrea Hense (Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen), welche Personen ihre gesellschaftliche Teilhabe als gefährdet wahrnehmen.

„Zunächst fällt die extreme Verunsicherung der Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung auf, die auch als Teilhabeschock beschrieben werden kann und die Wendeerfahrung vieler Ostdeutscher prägt. Obwohl es über die Zeit eine Annäherung an das westdeutsche Niveau der Prekaritätswahrnehmung gibt, wird die Gefährdung der eigenen ökonomischen Teilhabe in Ostdeutschland weiterhin stärker empfunden als in Westdeutschland“, betont Andrea Hense. Ihrer Studie zufolge nehmen auch einfache Arbeiter und Angestellte, Geringqualifizierte und Kinder aus Arbeiterfamilien deutliche Teilhabedefizite wahr. Sie schätzen sich als prekärer ein als Führungskräfte, Beamte, Hochqualifizierte und Kinder der Mittelschicht. „Angesichts dieser Ergebnisse ausschließlich von einer Krise der Mittelschicht zu reden, verschleiert existenzielle Ungleichheiten und gibt denjenigen keine Stimme, die in der Gesellschaft sowieso schon stärker marginalisiert sind“, meint die Göttinger Wissenschaftlerin.

Henses Studie zeigt, dass sich Individuen umso prekärer wahrnehmen, je wahrscheinlicher ihnen ein Arbeitsplatzverlust erscheint und je gravierender ein Erwerbsverlust für sie und ihre Familie ist. Daher ist die Prekaritätswahrnehmung höher, wenn Personen aufgrund ihrer Bildung oder beruflichen Stellung geringere Arbeitsmarktchancen haben oder aufgrund von Befristungen keine langfristige Beschäftigungsperspektive sehen. Dasselbe trifft zu, wenn sie weniger Möglichkeiten haben, eine Krise wie Arbeitslosigkeit durch finanzielle Rücklagen, die Erwerbstätigkeit anderer Haushaltsmitglieder oder familiären Rückhalt zu bewältigen.
Wie folgenreich sozialpolitische Entscheidungen für das Teilhabeempfinden der Bevölkerung sind, analysiert Hense mit Daten, die bis 1984 zurückreichen. Dies offenbart, dass eine zunehmende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie eine Rücknahme sozialstaatlicher Schutzfunktionen wie z.B. bei der Einführung von ‚Hartz IV‘ als prekaritätssteigernd erlebt werden. „Um Menschen, die sich abgehängt fühlen, neue Perspektiven zu geben, reicht es nicht aus, fast ausschließlich über Bildungsinvestitionen zu reden“, davon ist die Göttinger Forscherin überzeugt: „Zudem muss die Bundesregierung Befristungen einschränken, sozialstaatliche Unterstützungsmöglichkeiten ausbauen und zu einer aktiven Förderung des Arbeitsmarkts zurückkehren.“ Sie argumentiert, dass Maßnahmen zur Reduktion von Arbeitsplatz- und ökonomischen Sorgen gesellschaftlich äußerst relevant sind. Denn die Wahrnehmung eigener Prekarität befördert Krankheiten, senkt das subjektive Wohlbefinden und führt zu Konflikten im Job und in Familien.

Henses jüngst erschienene Studie stellt ein theoretisches Modell zur Erklärung eigener Ungleichheitswahrnehmungen zur Verfügung. Aus diesem können sowohl Forschungshypothesen als auch sozialpolitische Interventionsmöglichkeiten abgeleitet werden. Die empirische Analyse stützt sich auf komplexe statistische Verfahren mit Daten des sozio-oekonomischen Panels.

Kontakt
Dr. Andrea Hense, SOFI e.V.
T +49 176 78571582 oder +49 551 52205-18
E andrea.hense@sofi.uni-goettingen.de

Originalpublikation
Andrea Hense: Wahrnehmung der eigenen Prekarität. Grundlagen einer Theorie zur sozialen Erklärung von Ungleichheitswahrnehmungen. Wiesbaden: Springer VS 2018.
DOI: 10.1007/978-3-658-15991-7