Warum die Zeit manchmal schleicht und manchmal rast

Es sind altbekannte Phänomene: der Rückweg ist scheinbar kürzer als der Hinweg; je älter man wird, je rascher scheint die Zeit zu vergehen. Dr. Isabell Winkler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Forschungsmethodik und Evaluation des Instituts für Psychologie der Technischen Universität Chemnitz, untersucht das subjektive Zeitempfinden und die ihm zugrunde liegenden Einflussfaktoren.

„Die Neuropsychologische Forschung zeigt, dass es mehrere Bereiche im Gehirn gibt, die über Schleifensysteme vernetzt und die verantwortlich für das Zeitempfinden sind“, erklärt die Forscherin. „Auch Tiere und kleine Kinder können bereits Unterschiede in der Dauer von Reizen wahrnehmen. Daher kann man davon ausgehen, dass die Wahrnehmung von Zeit angeboren ist. Was jedoch eine lange beziehungsweise kurze Dauer bedeutet, muss gelernt werden.“

Es gibt Faktoren, die die Zeitwahrnehmung beeinflussen und damit auch verfälschen können. Beispielsweise Ablenkung, emotionale Aktivierung oder körperliche Anstrengung. „Wenn Menschen warten müssen und sich dabei nicht ablenken können, kommt ihnen die Zeit meist ziemlich lang vor“, sagt die Psychologin. „Oft sind diese Schätzungen dann auch genauer, weil man sich auf die verstreichende Zeit konzentriert und diese besser wahrnehmen kann. Lenke man sich ab – etwa durch das Internet, Videos schauen oder Musik hören – scheint die Zeit schneller zu vergehen.“ Die tatsächliche Dauer wird tendenziell unterschätzt, weiß Winkler. Besonders wenn rückblickend über bereits längere vergangene Zeitspannen geurteilt werden soll, kämen weitere Faktoren hinzu. Es sei beispielsweise wichtig, welche Ereignisse in Erinnerung geblieben seien beziehungsweise wie routiniert die Handlungen waren.

Handlungsroutinen seien auch ein wichtiger Hinweis auf die Frage, warum die Zeit als Kind scheinbar viel langsamer vergeht als im Erwachsenenalter. Anhand dieses Phänomens untersuchte Isabell Winkler unter anderem, welche Faktoren das Zeitempfinden beeinflussen. „In der Forschungsliteratur gibt es eine Reihe von Theorien zu diesem Alterseffekt. Aber die Ergebnisse der jeweiligen Studien waren nicht schlüssig und sogar etwas paradox“, so Winkler. „Der Effekt trat nur dann auf, wenn die Geschwindigkeit des Zeitvergehens für vergangene Lebensperioden beurteilt wurde. In der Regel wurde jedoch kein Unterschied festgestellt, wenn das Zeitempfinden in der aktuellen Lebensperiode zwischen Teilnehmern verschiedener Altersgruppen verglichen wurde.“ Damit handele es sich also nicht um einen tatsächlichen Wahrnehmungsunterschied, der vom Alter abhängt, sondern um ein Gedächtnisphänomen beziehungsweise einen Erinnerungseffekt. Der Alterseffekt der Zeitwahrnehmung entstehe somit beim Vergleich des rekonstruierten Zeitempfindens zwischen den verschiedenen Lebensperioden eines Menschen.

Um diese Widersprüchlichkeit der Ergebnisse aufzulösen, setzte sich die Arbeitsgruppe zwei Ziele: Zum einen überprüften sie, ob ein Vergleichskontext notwendig sei, damit der Alterseffekt auftritt, also ein Vergleich des Zeitempfindens der Gegenwart mit der Wahrnehmung in früheren Lebensperioden. Zum anderen verfolgten sie das Ziel, mögliche Ursachen für den Alterseffekt zu untersuchen. Hierfür wurden mehr als 500 Menschen im Alter von 20 bis 80 Jahren nach ihrem Zeitempfinden in der aktuellen Lebensperiode und in früheren Lebensphasen befragt. Das Ergebnis: Übereinstimmend mit früheren Ergebnissen wurde ein deutlicher Alterseffekt erzielt, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschiedene Lebensperioden retrospektiv verglichen haben.

Zeitforscherin Winkler erklärt den Effekt so: „Wichtige Erklärungsfaktoren dafür sind die im Laufe des Lebens zunehmenden Handlungsroutinen und damit einhergehend das Erfahren immer weniger Lebensereignisse, die man zum ersten Mal erlebt. Retrospektiv rekonstruieren wir die Dauer von Zeitspannen auf Basis erinnerter Ereignisse in einem vergangenen Zeitabschnitt. Je mehr unterschiedliche Ereignisse erinnert werden, desto länger wird ein Zeitabschnitt geschätzt. Zunehmende Routinen führen zu weniger intensiv und bewusst erlebten Ereignissen oder Handlungen. Damit werden in derselben Zeitspanne weniger unterschiedliche Ereignisse beziehungsweise Elemente einer Handlung erinnert und die Dauer wird als kürzer wahrgenommen.“ Rückblickend stelle sich der Eindruck ein, die Zeit müsse schneller vergangen sein, obwohl sich dies in der entsprechenden Situation nicht so anfühlen muss.

Kinder etwa erlebten natürlicherweise mehr Dinge zum ersten Mal und nehmen diese dadurch vermutlich intensiver und detailreicher wahr. Aufgrund dessen könne das Erlebte besser und facettenreicher erinnert werden, wodurch eine längere Zeitspanne rekonstruiert und die Zeit daher auch als länger dauernd erlebt würde.

Stress und Zeitdruck im Erwachsenenalter würden zusätzlich bewirken, dass Handlungen und Ereignisse weniger bewusst, detailreich und damit weniger achtsam erlebt werden können. Stress und Druck ließen die Zeit rückblickend schneller vergehen. Sogar in der Situation, in der dieser Stress empfunden wurde, würde der Zeitverlauf als zügiger erlebt werden, da die Wahrnehmung einer Person in Stresssituationen stark von der Zeit abgelenkt werden würden.

Ob die Zeitwahrnehmung sich durch die Digitalisierung und die damit zusammenhängende ständige Erreichbarkeit verändert haben, lässt sich Winkler zufolge noch nicht sagen. Sie vermutet es aber. „Es gibt durch die Digitalisierung potenziell mehr Ablenkung und im Gegenzug kaum noch Wartezeiten, die zur Entschleunigung und zur Achtsamkeit zwingen.“ Ein Trend hin zu reflektiertem Gegensteuerung sei bereits erkennbar, zum Beispiel in Form von Achtsamkeitskursen oder Meditation. Ihre Empfehlung: „Wann immer es der Alltag zulässt, könnte man Routinen durchbrechen und sich positive, bleibende Erinnerungen schaffen“. Hilfreich sei vor allem, bewusst neue Dinge zum ersten Mal auszuprobieren.

Wissenschaftliche Ansprechpartnerin:

Dr. Isabell Winkler, Professur für Forschungsmethodik und Evaluation Technische Universität Chemnitz, Institut für Psychologie

T +49 (0)371/531-36398
E isabell.winkler@psychologie.tu-chemnitz.de