„Endgame“-Verhalten beim Ausstieg aus der Kernenergie könnte Sicherheit gefährden

Psychologen fordern Beachtung des menschlichen Faktors

Gestützt auf das sogenannte „Endgame“-Verhalten der Spieltheorie haben Wissenschaftler der Universität Basel und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Berlin untersucht, wie die geplante Abschaltung der Kernkraftwerke in Deutschland das Verhalten von Beschäftigten der Anlagen beeinflussen kann. Die Ergebnisse ihrer Forschungen wurden jetzt in der Fachzeitschrift „Behavioral Science & Policy“ veröffentlicht.

Die Psychologen untersuchten, ob die drohende und zeitlich näher rückende Abschaltung der operativen Kernkraftwerke zu „Endgame“-Verhalten in der Kerntechnikbranche führt, etwa bei Anlagenmitarbeitern, Managern, Betreibern, Zulieferern und Behörden. „Endgame“-Verhalten in der Spieltheorie bedeutet, dass sich die Akteure zunehmend egoistisch verhalten, wenn ein „Spiel“ sich dem Ende nähert. Übertragen auf den Kontext der kerntechnischen Industrie kann dies bedeuten, dass für die Beteiligten auf allen Ebenen zunehmend die eigenen Interessen in den Vordergrund rücken. Eine solche Tendenz könnte negative Auswirkungen auf die Sicherheit kerntechnischer Anlagen haben.

Betrachtet wurde erstens das Verhalten der Akteure in der kerntechnischen Industrie, wie es sich in der öffentlichen Darstellung abbildete; zweitens werteten die Psychologen Statistiken zu meldepflichtigen Ereignissen in kerntechnischen Anlagenaus und drittens das Sicherheitsverhalten von Testpersonen in experimentellen Untersuchungen.

In den fünf Jahren nach dem Ausstiegsbeschluss 2011 fanden die Psychologen entgegen ihrer Hypothese keinen statistischen Anstieg von meldepflichtigen Ereignissen (Unfälle, Störfälle oder sonstige sicherheitsrelevante Ereignisse in kerntechnischen Anlagen). Dies wäre nach dem „Endgame“-Verhalten zu erwarten gewesen. Allerdings war bereits 2001 zwischen den AKW-Betreibern und der damaligen Bundesregierung ein Ausstieg vereinbart worden. Im Fünfjahreszeitraum nach diesem Ausstiegsbeschluss stieg die Anzahl meldepflichtiger Ereignisse um 39 Prozent an.

In verhaltensbasierten Experimenten nahmen Probanden die Rolle von Managern ein. Sie mussten in mehreren Durchgängen entscheiden, ob sie in die Sicherheit einer Anlage investieren wollten oder nicht. Wenn Investitionen ausblieben, stieg die Wahrscheinlichkeit von Unfällen. Die Ergebnisse zeigen «Endgame»-Verhalten. Zum Ende der Durchgänge wurde weniger in Sicherheit investiert. Nur wenn der konkrete Endzeitpunkt der Durchgänge im Unklaren blieb, trat kein „Endgame“-Verhalten auf.

Diese Ergebnisse sind zwar nicht eindeutig, aber es sei wichtig, mögliche verhaltensbasierte Konsequenzen beim Ausstieg aus sicherheitssensitiven Technologien und Industrien zu antizipieren und zu analysieren, so die Autoren. „Bei der konkreten Umsetzung solcher Beschlüsse darf der menschliche Faktor unter keinen Umständen übersehen werden“, fordert Erstautor Markus Schöbel. Ein politisch beschlossenes Ausstiegsverfahren könnte sonst bei der Umsetzung neue und nicht vorhergesehene Risiken mit sich bringen.

Originalbeitrag

Markus Schöbel, Ralph Hertwig, Jörg Rieskamp
Phasing out a risky technology: An endgame problem in German nuclear power plants?
Behavioral Science & Policy 3(2), 41–54. (2018)
https://behavioralpolicy.org/wp-content/uploads/2018/05/03_BSPvol3no2_Scho%CC%88bel.pdf

Kontakt
Dr. Markus Schöbel, Universität Basel, Fakultät für Psychologie
T +41 61 207 05 86
E m.schoebel@unibas.ch