Der Mensch als Vorbild für effizientes Vergessen

Psychologen und Informatiker arbeiten gemeinsam an Modellierungsansätzen menschlicher Gedächtnisstrukturen

Die digitale Informationsflut steigt rapide an. In den Computersystemen von Organisationen sammeln sich riesige Mengen von Wissen unterschiedlichster Art.an. Die Informationen liegen oft unterschiedslos vor, sind also z.B. nicht nach ihrer Wichtigkeit bewertet. Bei der Suche nach bestimmten Informationen müssen immer mehr ältere, irrelevante oder selten gebrauchte Informationen aufwändig herausgefiltert und relevante zusammengeführt werden. Abhilfe schaffen soll „gezieltes Vergessen“ unwichtiger Daten. Forschende aus Informatik und Psychologie arbeiten daran, Daten zukünftig entsprechend ihrer Relevanz automatisch mit Prioritäten versehen zu können: Im Rahmen der „Künstlichen Intelligenz“ sollen Organisationen ein System für „wissensspezifisches Vergessen“ implementieren können.

Der Informatiker Prof. Dr. Christoph Beierle (FernUniversität Hagen, Lehrgebiet Wissensbasierte Systeme) hat sich mit seiner Kollegin Prof. Dr. Gabriele Kern-Isberner (TU Dortmund) und dem Psychologen PD Dr. Marco Ragni (Universität Freiburg) zu dem Projekt „FADE – Intentionales Vergessen durch kognitiv-informatische Methoden der Priorisierung, Kompression und Kontraktion von Wissen“ zusammengeschlossen. Sie wollen die Zusammenhänge zwischen menschlichem Vergessen und formalen Vergessensoperatoren – Operatoren sind mathematische Vorschriften – ermitteln. Untersucht werden soll, wie dabei erkannte Mechanismen für Organisationen nutzbar gemacht werden können, um Informationen nach ihrer Relevanz zu bewerten. Ziel ist, den hohen Aufwand für die Vorselektion und das Zusammenführung von Informationen durch kognitiv-informatische Methoden automatisiert reduzieren zu können.

FADE ist eines von acht Projekten, die im DFG-Schwerpunktprogramm „Intentionales Vergessen in Organisationen“ gefördert werden, um die Mechanismen, die der Mensch in seiner Evolution für intentionales – also unbewusstes, aber gezieltes – Vergessen entwickelt hat, für die Ablaufoptimierung in Organisationen nutzbar zu machen. Die DFG fördert es mit 670.000 Euro. „Unser Vorbild ist der Mensch, er hat effizientes Vergessen erfolgreich entwickelt“, betont Prof. Christoph Beierle.

Gezieltes Vergessen kann gerade für Organisationen besonders sinnvoll sein. Ändern sich z.B. betriebliche Abläufe, müssen Beschäftigte die dafür aktuellen Informationen sofort abrufen können. Greifen sie im Datenwust versehentlich auf veraltete Informationen zurück, kann das – etwa in der Produktion – fatale Folgen haben. Daher muss die Organisation einen „Vergessensprozess“ unterstützen bzw. implementieren. Es kann bestimmte Fragen aus der Organisation selbst heraus geben, die nicht mehr beantwortet werden sollen, etwa zu völlig veralteten Betriebssystemen. Auch Dokumente, deren vorgeschriebe Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist, sollen oft gezielt eine niedrige Priorität erhalten und vergessen werden. Dazu müssten Systeme das Vergessen lernen.

„Wir Menschen vergessen etwas, wenn wir das Gefühl haben, dass es nicht mehr wichtig ist, wenn wir es lange nicht mehr benutzt haben, wenn wir immer seltener daran denken. Durch eine Vergessensfunktion nimmt der Wert einer Erinnerung mit der Zeit also immer weiter ab und sinkt irgendwann unter einen bestimmten Schwellenwert“, so Beierle. Die geplante Vergessensfunktion soll das modellieren können. Das System berücksichtigt unter anderen, wann die Information zuletzt genutzt wurde und wie gut sie geholfen hat. Ihr Verständnis von Relevanz soll auf „menschlichen“ Mechanismen basieren.

„Es gibt psychologische kognitive Architekturen, die das menschliche Gehirn modellhaft darstellen. Das Modell ACT-R geht davon aus, dass verschiedene ‚Puffer‘ im Gehirn existieren, in denen Informationen gespeichert werden, die man von einem Puffer in den anderen verschieben kann“, erklärt Beierle. Viele psychologische Forschungsarbeiten zeigten, dass im menschlichen Gehirn dazu ein bestimmtes Verhalten stattfinden muss. Das Konzentrat daraus gelte es zu extrahieren und in die Informatik zu übertragen. Abgebildet sei im ACT-R zum Beispiel der Abruf von Informationen. Es gebe eine Art Langzeitgedächtnis mit Mechanismen, die eine dort abgelegte Information nach einem längeren Zeitraum immer schwerer abrufbar machen.

Christoph Beierle und Gabriele Kern-Isberner wollen diese psychologischen Prozesse mit den Mitteln der Informatik beschreiben: „Wir benutzen dabei gerne das Modell eines ‚Intelligenten Agenten‘, eines autonom agierenden Software-Systems“, erläutert Beierle. „Er hat immer einen gewissen Wissenszustand, ist in der Lage, Schlussfolgerungen zu ziehen, kann etwas lernen und kennt bestimmte Fakten.“ Soll dieser Agent bestimmtes Wissen vergessen, ist es unter Umständen möglich, dass er dieses durch Schlussfolgerungen aus seinem noch vorhandenen Wissen wieder herstellen kann. Auch das müssen die Forschenden berücksichtigen. Der Agent muss also nicht nur ein bestimmtes Wissenselement löschen, sondern darüber hinaus auch solche Elemente, mit denen er dieses wieder rekonstruieren könnte.

Für die Lösung dieses Problems gibt es in der Informatik-Forschung verschiedene Ansätze. „Welches der richtige ist, ist eines unserer Themen“, so Beierle. Zur Lösung der Aufgabe geht das FADE-Team wie folgt vor: Es analysiert zunächst die Wissensstrukturen von Organisationen und bringt sie in Beziehung zu mathematisch-psychologischen Modellierungsansätzen der menschlichen Gedächtnisstrukturen in kognitiven Architekturen. Diese werden dann zu Funktionen für Priorisierung und Vergessen weiterentwickelt. Mit Methoden der Informatik zur Wissensrepräsentation erfolgt dann der Ausbau zu einem kognitiv-informatischen „System des Vergessens“.