Quo vadis Psychotherapie?

Pure Inspiration durch Vortrag Jürgen Hilles und durchaus kontroverse Debatten

Der Mitgliederversammlung der Sektion am 21. Oktober in Potsdam vorausgegangen war am gleichen Ort ein Vortrag von Vorstandsmitglied Prof. Jürgen Hille unter der Überschrift „Psychotherapie der Zukunft“. An den Anfang stellte Hille eine Rundumschau auf gesellschaftliche Veränderungen und Veränderungen von Haltungen, Einstellungen und Erwartungen. Da ging es um Ent-Traditionalisierung, Bindungsprobleme, die Auflösung familiärer Strukturen, die wachsende Mobilität und Flexibilität, um unsichere Arbeitsverhältnisse, Patchwork-Identity und Digitalisierung, um nur einige Stichworte zu nennen. Hilles Botschaft: Der Weg in die Zukunft führt weg von Psychotherapieschulen, er verläuft nicht einspurig, d.h. verschiedene Wissenschaften werden Psychotherapie beeinflussen. Das alles habe sich seit Jahren in den Werken herausragender Forscher wie Klaus Grawe bereits angekündigt und werde immer deutlicher. Mit anderen Worten: „Psychologen und Psychotherapeuten müssen in Zukunft viel mehr über das Gehirn lernen.“ Wissenschaftler wie der Verhaltensbiologe Gerhard Roth, wie Gerald Hüther und Manfred Spitzer verknüpften neuronales Wissen mit Veränderungswissen, befassten sich mit Korrelationen zwischen Krankheitsbildern und Hirnaktivitäten. Dies Wissen eröffne neue Behandlungsmöglichkeiten, an die vor wenigen Jahren kaum jemand gedacht habe – siehe z.B. die Behandlung von Straftätern über ein Videofeedback-System. Auch für die Schizophrenie sieht Hille perspektivisch neue therapeutische Möglichkeiten. Mit seinen Ausführungen einschließlich zahlreicher Literasturhinweise stieß er nicht nur bei den anwesenden studentischen Gästen auf großes Interesse.

Gleichzeitig warnte Jürgen Hille vor Modeerscheinungen in der Psychotherapie, die zum Teil esoterisch daherkämen und – siehe NLP (Neurolinguistische Programmierung) – sehr manipulativ sein könnten. Er ging dann auf absehbare Veränderungen in der Versorgungslandschaft ein und scheute sich dabei auch nicht vor einigen Spekulationen. Entscheidend sei ein waches Auge auf Prozesse zu haben, deren Folgen sich ggf. erst Jahre später zeigen würden. Als Beispiel nannte er u.a. das Psychotherapiedirektstudium. Das gegenwärtig extrem starke Interesse am Psychotherapeutenberuf stehe im krassen Widerspruch zu der vorhersehbar nicht unbegrenzt steigenden Zahl von Psychotherapeutenstellen und -sitzen. Wer sich mit einem Master oder Diplom in Psychologie heute noch auf andere Berufsfelder begeben könne, werde dies mit dem von einigen Seiten angestrebten Psychotherapiestudium nicht mehr tun können. An dieser Stelle entbrannte eine durchaus kontroverse Diskussion, meinten einige Teilnehmer doch, die Psychotherapeuten kämen dann eben in Beratungsstellen unter, wo sie – wie entgegnet wurde – nicht psychotherapeutisch arbeiten dürften, anderen Berufsgruppen die Arbeitsplätze wegnähmen und zudem auch viel weniger verdienten.

Inspiriert von Hilles Ausführungen kritisierte Clivia Langer einen grundsätzlichen Fehler im Gesundheitssystem, das eher die Bezeichnung „Krankheitssystem“ verdiene. Viele Menschen könnten heute schon von professioneller psychologischer Beratung profitieren, wenn das System ihnen nicht erst im Zustand der Krankheit helfen würde. Es wurde deutlich, dass man unter dem Titel Psychotherapie der Zukunft“ einen ganzen Landestag oder eine andere Ganztagsveranstaltung bestreiten könnte und so die Chance hätte, auf verschiedene Entwicklungen – wünschenswerte und Widerstand herausfordernde – ausführlicher einzugehen.