Gesunde Skepsis oder fehlende Phantasie?

Zögerlicher Einsatz von Führung in reduzierter Arbeitszeit (FIRA) bedeutet verschenkte Chancen

Eileen Schönhardt*) ist eine hervorragend ausgebildete Mathematikerin mit starker sozialer Kompetenz. Ihr Sprung in eine leitende Position der Firma (namhaftes Unternehmen der Finanzdienstleistung) stand in absehbarer Zeit bevor. Doch dann wurde sie schwanger. Grübeln in der Führungsetage: Sollte man sich jetzt nach einem geeigneten Kandidaten auf dem Arbeitsmarkt umsehen, der das Unternehmen jedoch nicht kannte? Und das, obwohl die ideale Kandidatin sich in Sichtweite befand? Man suchte eine andere Lösung und fand sie in dem noch relativ jungen Arbeitszeitmodell „Führung in reduzierter Arbeitszeit (FIRA)“. Eileen Schönhardt stieg kurze Zeit nach der Geburt ihres Kindes mit 70 Prozent Arbeitszeit in die Führungsposition ein. Es wäre gelogen zu behaupten, dass es gar keine Probleme gab, aber die hätte es in anderer Form mit einem Einsteiger von außen auch gegeben. Inzwischen funktioniert dieser FIRA-Fall hervorragend; das Unternehmen und die Angestellte haben profitiert.

Landestag der Psychologie in Stuttgart am 8. Juli

Diplompsychologe Dr. Thomas Moldzio wird das Modell am 8. Juli beim Landestag der Psychologie in Stuttgart vorstellen. Er ist ein glühender Verfechter des Modells, und eine wachsende Zahl von Unternehmen zeigt sich dafür aufgeschlossen. Die Gründe liegen auf der Hand. Auf der Arbeitgeberseite ist es das Interesse an hochqualifizierten, ins Unternehmen passenden Fach- und Führungskräften. Hinzu kommt der Wunsch, älteren Führungskräften den allmählichen Ausstieg leichter zu machen und dadurch Jüngeren in „Warteposition“ früher mehr Verantwortung übertragen zu können. FIRA ermöglicht das.

Auf der Arbeitnehmerseite kommen noch weitere Interessen hinzu. Dort sind es schon längst nicht mehr nur Mütter, die mehr Zeit für Kinder und Familie wollen. Auch jenseits der Elternzeit existiert Bedarf nach mehr zeitlichen Spielräumen im Privatleben. Dieser kann auch durch dauerhaft pflegebedürftige Angehörige entstehen. Muss man deshalb seine Führungsposition aufgeben? Soll die Firma auf sehr gut geeignete Fachkräfte verzichten und andere, weniger sozial engagierte oder familiär eingebundene einstellen? Eher nicht, zumal jüngere Forschungen den stimulierenden Effekt für Führungskräfte durch Familie bestätigen.

Bisher haben schätzungsweise nur 10 bis 20 Prozent der Arbeitgeber die Führungsebene mit Teilzeitkräften besetzt, und definitiv noch weniger Unternehmen wenden FIRA im Rahmen eines systematischen Konzepts der Managemententwicklung an. In systematischen Untersuchungen, die von Moldzios Beratungsunternehmen gemeinsam mit Prof. Dr. Thomas Ellwart von der Universität Trier durchgeführt wurden, artikulieren Führungskräfte und Mitarbeiter Gründe für ihre mit FIRA verbundene Skepsis. Sie befürchten,

  • dass Teilzeitführungskräfte von den Mitarbeitern nicht ernst genommen würden
  • ihr Einsatz zu Chaos führen würde
  • mehr Stress und Belastungen sowohl bei Mitarbeitern als den Führungskräften selbst entstünde.

Interessant ist, dass diese Befürchtungen bei Befragten, die bereits Erfahrung mit FIRA sammeln konnten, deutlich geringer ausgeprägt sind als bei denen, die das Modell nur aus der Theorie kennen.

Unternehmenskultur verändert sich nur langsam

Während technische Neuentwicklungen in Deutschland relativ rasch aufgegriffen werden, verändert sich die Unternehmenskultur nur sehr langsam. Die Phantasie der Ingenieure eilt der der Manager offenbar voraus. „Noch erwarten höhere Führungsebenen von Führungskräften vor allem Präsenz. Morgens als erster da, abends als Letzter raus. Statt Leistung an Ergebnissen zu messen, beurteilt man sie an der Anwesenheit. Mit der Wirklichkeit passt das schon lange nicht mehr zusammen, aber die Geisteshaltung ist geblieben“, sagt Thomas Moldzio. Er plädiert für eine Ergebniskultur, die man auch Vertrauenskultur nennen könnte. Mitarbeiter in vielen Bereichen der Wirtschaft müssten nicht Tag für Tag und Stunde für Stunde permanent geführt werden.

Die Skepsis gegenüber Führung in reduzierter Arbeitszeit wird von Arbeitgebern zum Teil auch mit Branchenspezifik begründet. Moldzio leugnet unterschiedliche Anforderungen nicht; sie seien allerdings weniger branchen- als positionsabhängig. Nicht immer werde die Antwort nur in einer für eine begrenzte Dauer reduzierten Arbeitszeit bestehen. „Manchmal ist ein Co-Leitungsmodell die Lösung. Dabei teilen sich zwei Führungskräfte die Arbeit. Das bietet zudem die Chance, noch zögernde obschon geeignete Kandidaten mit Führungsaufgaben zu betrauen. Erfahrungen im Gesundheitswesen untermauern das Potenzial dieses Modells.“

Noch stark unterschätzt wird der Bedarf an Weiterbildung im Kontext mit Arbeit 4.0. Wo bisher der Bachelor noch reichte, wird in Zukunft oft ein Master oder eine andere Zusatzqualifikation erforderlich sein. Führungskräfte davon auszuschließen wäre irrational. Ihnen das als Privatsache zu überlassen, die sie mal eben in ihrer Freizeit erledigen, birgt gesundheitliche Risiken.

Beim Landestag der Psychologie in Stuttgart am 8. Juli 2017 unter dem Titel „Beziehung 4.0 – macht Digitalisierung alles besser?“ stehen außerdem Risiken für Vertraulichkeit im Netz, das Internet als Teil der uns beeinflussenden Umwelt sowie Online-Dating und der Schutz der Gesundheit unter neuen technischen Bedingungen auf der Tagesordnung. Mehr Infos unter:

www.bdp-bw.de/aktuell/2017/2017_ltp_ueberblick_wsinfos.html

*) Alle Namen im Text von der Redaktion geändert.