Zuckerbergs Vision ins Gegenteil verkehrt

Schweizer Wissenschaftlerin untersucht Straftaten auf Facebook live

Ende März vergewaltigten Unbekannte in Chicago eine 15-jährige Jugendliche. Die Tat nahmen sie auf einem Video auf, das in Echtzeit auf «Facebook live» lief. Etwa 40 Personen sahen es sich an, aber niemand, so sagte später ein Polizeisprecher der «Chicago Tribune», rief die Einsatzkräfte. Am Samstag nahm die Polizei einen Verdächtigen, einen 14-jährigen Jugendlichen, fest.
Die Tat ist erschütternd, doch der Fall der nicht erfolgten Hilfeleistung behandelt ein altes Dilemma. Seit fünf Jahren beschäftigt sich Lea Stahel an der Universität Zürich, mit den sozialen Auswirkungen und Normen im Internet. Inzwischen sei das Netz kein abgeschirmter, fremder Ort mehr, sagt sie: «Die Grenzen werden durchlässiger, und damit gelangen auch Phänomene aus der Offline-Welt in die virtuelle Welt: Fremdenhass, Gewalt, Mobbing.»
Insgesamt wurden laut der «Chicago Tribune» seit Oktober 2016 mindestens vier Verbrechen in Chicago auf «Facebook live» gezeigt. Im Februar konnten User zusehen, wie ein Zweijähriger und seine Tante erschossen wurden; im Januar hatten mutmaßlich vier Afroamerikaner, zwei Männer und zwei Frauen, live einen weißen Behinderten gequält. Ähnliche Fälle gibt es in Europa: Der 19-Jährige, der im März in Deutschland ein Kind ermordet hatte, zeigte im Darknet Fotos von sich mit der Leiche. Und in der schwedischen Stadt Uppsala stehen dieser Tage drei Männer vor Gericht, die eine Frau vergewaltigt und dies gefilmt haben sollen. Das einstündige Video, das die Polizei inzwischen sicherte, soll innerhalb einer geschlossenen Gruppe mit 60 000 Nutzern zu sehen gewesen sein. Damals hatten Zuschauer die Polizei gerufen. Zweien der Angeklagten wird Vergewaltigung vorgeworfen, dem dritten Beihilfe und grobe Verleumdung. Er soll die Tat gefilmt und abwertende Bemerkungen über die Frau gemacht haben. Die Männer bestreiten die Tat.
Ob jemand einschreitet oder nicht, wenn eine Person angegriffen wird, ist eine altbekannte Frage, und die Faktoren, die darüber entscheiden, sind in der digitalen Welt dieselben wie auf der Straße. Laut Stahel ist die eigene Identität ebenso entscheidend wie die Ausprägung des Gerechtigkeitssinns und der Empathie sowie die Fähigkeit, eine Notlage richtig einzuschätzen.
Im Netz bekommen solche Phänomene eine neue Dynamik. Stahel sagt, wir erlebten im Netz einen «Kontext-Kollaps»: «Durch die vielen Bilder und Filme, die wir täglich sehen, sind wir überfordert: Manche sind anstößig, andere kommen aus fremden Ländern, wo andere Normen gelten. Manche Bilder sind real, andere künstlich oder gestellt», erklärt Stahel. Viele User fühlten sich überfordert, diese Informationen korrekt einzuordnen.
Wahrscheinlich ist dies einer der Gründe dafür, dass im jüngsten Fall von Chicago niemand einschritt. Stahel sagt, die Menschen hätten noch nicht ihre Rolle im Internet gefunden. Für viele ist das Netz ein unpersönlicher Ort mit unklaren Normen und Autoritäten. Soll man die Polizei rufen, wenn man ein Gewaltvideo sieht? Oder ist Facebook zuständig? Noch schwieriger ist es, wenn zwischen dem Ort der Tat und dem des Betrachters Tausende von Kilometern liegen. Für die Zuschauer ist es dann am leichtesten, sich auszuloggen. «Man ist die Verantwortung los und muss keine Konsequenzen fürchten», so die Wissenschaftlerin. Dabei wäre es gerade im Netz einfach, Hilfe zu holen – per Mail, Tweet oder Telefon –, ohne dass man, wie auf der Straße, selbst um sein Leben fürchten müsste. Stahel zufolge gelte im Netz dasselbe Prinzip wie draußen: Je höher die Zahl der Anwesenden, desto seltener greift der Einzelne ein. Nach dem Motto: Können ja auch die anderen machen.
Warum nehmen Verbrecher aber nun ihre Taten auf und stellen sie ins Netz? Dahinter stecke ein Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, sagt Stahel. Möglicherweise sei auch die Lust am Risiko, vor einem Publikum etwas Verbotenes zu tun, ein wichtiges Motiv. Dabei sind es natürlich ausgerechnet die brutalen Videos, die besonders viele Reaktionen versprechen. Bleiben sie aus, sind die Täter enttäuscht. Als Mark Zuckerberg im April 2016 «Facebook live» vorstellte, betonte er die Vorzüge der Funktion: «Wer ein Telefon hat, kann nun etwas für jeden in der Welt aufnehmen. Wer in Echtzeit interagiert, fühlt sich mit anderen persönlicher verbunden.» Die Täter haben diese Vision ins Gegenteil verkehrt. Nicht nur, dass sie ihre Opfer missbraucht haben; sie haben sie in ihrem Leid und ihrer Hilflosigkeit auch noch einem weltweiten, unüberschaubaren und anonymen Publikum ausgeliefert.