Der Weg zum Terroristen

Radikalisierung aus kriminalpsychologischer Sicht
Vortrag von Dr. Ursula Gasch

Anlässlich der Mitgliederversammlung am 15. Oktober in Stuttgart hatte die Sektion die Diplompsychologin und Kriminologin Dr. Ursula Gasch eingeladen. Ihr Thema: „Terrorismus und Radikalisierung: Kriminalpsychologische Aspekte“. Durch die erst wenige Tage zurückliegende Verhaftung und den Tod des mutmaßlichen Terroristen Dschaber Al-Bakr gewann dieser Teil der Veranstaltung besondere Aktualität. Mit der Problematik beschäftigt sich bundesweit eine ganze Reihe von Psychologen. Weder in der Definition von Terrorismus noch in der Beschreibung der Ursachen und des Radikalisierungsprozesses besteht völlige Übereinstimmung.

Das beginnt bereits mit der schwierigen Abgrenzung des Terrorismus von politischem Widerstand, wie das Beispiel Nelson Mandelas zeigt, der über Jahre als Terrorist verunglimpft und später als Ikone des Befreiungskampfes in Südafrika und als Präsident gefeiert wurde. Für Ursula Gasch zeichnen die politische Motivation, das planmäßige, gewaltsame Vorgehen sowie der Wunsch, das Leiden Benachteiligter zu lindern, die Lust auf Rache und die Bereitschaft zu ihrer Umsetzung Terroristen aus.

Sie ist überzeugt, dass es keine generelle Trendwende von der Organisation bzw. einem Netzwerk zu den Einzeltätern gibt, den „lone wolfes“,die sich Ideologie selbst aneignen, keiner Organisation angehören, keinem Befehl folgen. Arid Uka, der 2011 den Mordanschlag auf US-Soldaten am Frankfurter Flughafen verübte, sei eher die Ausnahme. Schon auf Breivik treffe das Bild nicht zu, wenn man sich intensiver mit seinem Lebenslauf und den Tatumständen befasse.

Statistik mit zu vielen weißen Flecken

Ursula Gasch lieferte eine ganze Reihe von Zahlen zu Politisch Motivierte Kriminalität (PMK),  problematisierte aber zugleich die schlechte Datenlage in der Bundesrepublik, wenn es um Details geht und andere Schwächen der Statistik. Als PMK, so führte sie aus, werden Delikte erfasst, die einen oder mehrere Straftatbestände der klassischen Staatsschutzdelikte erfüllen, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann. 2015 waren das 38.981, im Jahr davor 32.700. Aber auch Allgemeinkriminalität zähle zur PMK, wenn in Würdigung der Gesamtumstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte für eine politische Motivation gegeben seien.

Auch wenn Ursula Gasch im Vortrag auf islamistischen Terror fokussierte, was von Zuhörern kritisiert wurde, lieferte sie doch eine ganze Reihe von Informationen zum Rechtsterrorismus: Im Verfassungsschutzbericht des Bundeskriminalamtes (BKA) 2015 werden PMK-Rechts, PMK-Links-PMK-Ausländerkriminalität und PMK-sonstige unterschieden. Unter PMK-rechts werden 21.933, unter PMK-Links 5.620, unter PMK-Ausländerkriminalität 1.524 verbucht. Letztere sind gegenüber dem Vorjahr gesunken, PMK bei Rechten ist dagegen dramatisch angestiegen, bei Linken gibt es ebenfalls einen Anstieg. Die Formulierung „keine gesicherten Daten“ taucht in den Verfassungsschutzberichten hinter den Organisationen IS, al-Nusra und al-Quaida genauso auf wie unter al Quaida im islamischen Maghreb (AQM) und al-Shabab. Währen man 2013 bei Milli Görös“ das Islamismus-Potenzial noch mit 31.000 bezifferte, steht dort seit 2014 ebenfalls: Keine gesicherten Zahlen. Das von Salafisten wir immerhin mit 8.350 angegeben.

Überwachung aller Gefährder rund um die Uhr?

In ihrem mehrfach von Nachfragen und auch Widerspruch unterbrochenen interessanten Vortrag ging sie auf verschiedene Rekrutierungsmaßnahmen, -orte und auf Zielgruppen ein. Eine besondere Rolle Gefährdung geht nach Gaschs Worten von den nach Syrien oder Irak Ausgereisten aus, die dort an Kampfhandlungen teilgenommen haben. Ca. 250 der Ausgereisten seien inzwischen zurück, davon 70 mit Kampferfahrung in Syrien. Mit der Illusion, all diese müsse und könne man 24 Stunden am Tag überwachen, räumte Ursula Gasch auf. Derzeit würden ca. 70 Top-Gefährder rund um die Uhr polizeilich überwacht; pro Kopf seien dafür 32 Polizisten abgestellt. Diese Überwachung immer weiter zu steigern, sei nicht möglich und verspreche auch keine adäquaten Effekte.

Sie warnte vor der zum Teil durch Medien betriebenen Stimmungsmache und der durch Masse und Art von Berichten erzeugten Angst. Aber auch ihre Darstellung, insbesondere der islamistischen Terroristen, ihre Warnungen davor, was Deutschland da alles noch drohe oder schwer auf die Füße fallen könne, trugen bisweilen angstmachende Züge.

Benachteiligung und strukturelle Probleme sind nach Gaschs Überzeugung nicht ausschlaggebend dafür, dass ein Mensch zum Terroristen wird; sonst ließe sich „das vergleichsweise geringe Aufkommen an Terroristen weltweit kaum erklären“. Die relative Armut sei dennoch einer der Risikofaktoren, besonders unter der großen Zahl arbeitsloser junger Männer in vielen Ländern des Südens aber auch Europas.

„Radikalisierung ist immer ein Prozess“

Wenig hält Ursula Gasch von der Turboradikalisierung, die neuerdings einigen Terrorverdächtigen attestiert wird. Solche Einzelfälle gebe es, räumt sie ein; in diesen könne Radikalisierung als Reaktion oder Bewältigungsstil verstanden werden, mit dem eine die eigenen psychischen Ressourcen überfordernde Situation gemeistert werden soll. Siebetont aber: „ Keiner wird als Terrorist geboren, es gibt immer einen Radikalisierungsprozess.“ Unter Radikalisierung versteht sie eine persönliche Entwicklung, in der ein Individuum extreme politische, soziale und/oder religiöse Ideale übernimmt und zur Erreichung ihrer Ziele wahllose Gewalt rechtfertigt. Es gehe auch um einen mentalen und emotionalen Prozess, der eine Person darauf vorbereitet oder dazu motiviert, sich gewalttätig zu verhalten bzw. Gewaltakte direkt zu unterstützen. Gasch thematisierte in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeiten digitaler Trainingsmöglichkeiten durch Egoshoter-Spiele, die seit Entwicklung von Virtual-Reality-Brillen ganz neu zu bewerten wären. Vor allem sei Radikalisierung aber die wachsende Bereitschaft einer Person, weitreichende Veränderungen in der Gesellschaft zu verfolgen, die mit der existierenden Ordnung in Konflikt stehen oder diese gefährden. Also war der ANC in Südafrika ihres Erachtens doch eine Terrororganisation? Fragen bleiben.

Für besonders empfänglich sind nach Gaschs Erfahrung Jugendliche und junge Erwachsene, soweit sie weitere Merkmale aufweisen, labile Persönlichkeit sind, aus zerrütteten Familien stammen, sich in einer Lebenskrise befinden oder verzweifelt auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind und dann in ein radikales Umfeld geraten. Gefährdet seien auch ohnehin gewaltbereite Menschen, die ihren Hang zur Gewalttätigkeit und dissoziale Qualitäten als Mitglied einer Organisation quasi legitimiert, ja geradezu „ehrenhaft“ ausleben könnten.

Risikofaktor Psychischer Erkrankungen

Psychische Krankheiten, wie sie in den zurückliegenden Monaten bei einigen Anschlägen erwähnt wurden, können laut Ursula Gasch bereits vor der Radikalisierung vorliegen und mit ursächlich für eine erhöhte Vulnerabilität sein. In solchen Fällen bestehe durchaus die Gefahr der Manifestierung und Verschärfung der psychopathologischen Disposition durch den Radikalisierungsprozess. Und schließlich sei bei einigen infolge der selbst real durchgeführten Kampfhandlungen und der Radikalisierung auch mit der Entwicklung psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder sowie Posttraumatischen Verbitterungsstörungen oder Posttraumatischen Belastungsstörungen zu rechnen.

Es wurde deutlich, dass das Thema einen ganzen Fachtag hätte füllen können, um z.B. noch mehr auf die virtuelle Welt und das Internet als Komplizen im Radikalisierungsprozess eingehen zu können. Die Lage wird dazu vorhersehbar in den kommenden Monaten und Jahren noch Gelegenheiten bieten.

Christa Schaffmann