Psychopharmaka sind keine Lösung

Die derzeit verfügbaren Medikamente können die Symptome psychischer Störungen dauerhaft nicht lindern und bei längerer Einnahme teils sogar negative Folgen haben. Zu diesem Schluss kommen die Psychologen Prof. Dr. Jürgen Margraf und Prof. Silvia Schneider von der Ruhr Universität Bochum nach der Auswertung zahlreicher Studien. Im Blick haben sie dabei Medikamente gegen Depression, Angststörungen und das Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom; ähnliche Befunde vermuten die Autoren ihrer Untersuchung zufolge auch für Schizophrenie-Medikamente. Eine langfristige Einnahme der Arzneien könne das Risiko für eine chronische Erkrankung oder spätere Rückfälle erhöhen. Psychotherapien wie die Kognitive Verhaltenstherapie erzielten hingegen langfristig deutlich besser anhaltende Effekte.
Die Antwort auf die Frage, warum es nach 60 Jahren intensiver Forschung keine besseren Therapieoptionen gibt, sehen Margraf und Schneider unter anderem in der weit verbreiteten Vorstellung, psychische Störungen könnten sich allein mit biologischen Konzepten erklären lassen. „Es ist heute Standard, den Patienten und der Öffentlichkeit zu erzählen, dass ein aus dem Lot geratenes Neurotransmittersystem die Ursache für psychische Erkrankungen ist“, erklärt Jürgen Margraf. Dabei sei nach wie vor nicht klar, ob dieses Phänomen Ursache oder Folge sei. Soziale Faktoren dürften nicht vernachlässigt werden. Auch die starren Kategorien von „krank“ und „gesund“ seien bei psychischen Störungen mit ihren vielen unterschiedlichen Ausprägungen nicht hilfreich, so Schneider und Margraf.

Zudem werde sozialen Faktoren noch nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet. Margraf macht das u.a. an Beobachtungen der Weltgesundheitsorganisation fest, wonach in Ländern der Dritten Welt nur 15,9% der Schizophrenie-Patienten ununterbrochen mit Neuroleptika behandelt wurden, in Industriestaaten 61%. Trotzdem war das langfristige Ergebnis in den Entwicklungsländern besser. Das zeige, wie wichtig z.B. das Eingebunden-Sein in eine Familie, eine Dorfgemeinschaft oder andere soziale Strukturen für eine Linderung der Symptomatik sei.

Die Bochumer Psychologen fordern, die Forschung zu biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren besser zu verzahnen und den engen Blick auf mögliche biologische Ursachen zu weiten. Eine weitere Ursache sehen Margraf und Schneider  in der trickreichen Umgehung des in Deutschland bestehenden Werbeverbots für verschreibungspflichtige Medikamente durch große Pharmaunternehmen. Zahlreiche Weiterbildungen von Ärzten würden durch Pharmaunternehmen gesponsert. Solche Anlässe würden massiv genutzt, um im Widerspruch zum aktuellen Wissensstand immer wieder die segensreiche Wirkung von Psychopharmaka zu Propagieren. Zweifelhafte oder gar falsche Behauptungen der Branche schafften es bis in Lehrbücher für angehende Mediziner und Approbierte hinein. Dieses Marketing im Bereich Psychopharmaka müsse notfalls durch staatliche Eingriffe zurückfahren werden.
Originalveröffentlichung

Jürgen Margraf, Silvia Schneider: From neuroleptics to neuroscience and from Pavlov to psychotherapy: More than just the “emperor’s new treatments” for mental illnesses?, in: EMBO Molecular Medicine, 2016, DOI: 10.15252/emmm.201606650
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