Gisela Neunhöffer über die PPP-RL und ungelöste Probleme in psychiatrischen Krankenhäusern
Alle reden über Corona und den Mangel an Personal besonders auf den Intensivstationen. Personalprobleme in Psychiatrischen Krankenhäusern sind eher selten Gegenstand öffentlicher Debatten. Anlässlich des Angestelltentages ( Online-Event), das die SABP in Kooperation mit der Sektion Klinische Psychologie und dem VPP am 28.August unter dem Titel „Neue Herausforderungen – und dann auch noch Corona“ veranstaltet, sprach Christa Schaffmann über dieses Thema mit einer der Referent*innen, Gisela Neunhöffer von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, in der ver.di Bundesverwaltung zuständig für die Psychiatrischen Einrichtungen.
Wird das jetzt immer so weiter gehen mit Nachbesserungen und damit permanente Unsicherheit herrschen?
Damit nicht wieder zehn Jahre verstreichen bis die verbliebenen Defizite beseitigt und sinnvolle Änderungen bei Bedarf zeitnah erfolgen können, wurde einerseits entschieden, die Richtlinie künftig kontinuierlich weiterzuentwickeln. Darüber hinaus gab es Teile, die noch nicht fertig waren – da hat der GBA im Oktober vergangenen Jahres Ergänzungen beschlossen. Die weiterentwickelte Fassung gilt nun seit Januar 2021. Die kontinuierliche Anpassung macht im Interesse der Beschäftigten und der Patienten durchaus Sinn. Sie eröffnet zudem die Chance, die aus Sicht vieler Beschäftigter von psychiatrischen Krankenhäusern immer noch bestehenden Defizite zu beseitigen. Was nicht passieren darf, ist, dass die Richtlinie immer weiter verwässert und ihre Umsetzung auf die lange Bank geschoben wird.
An welche Defizite denken Sie dabei?
Die Regelungen der Richtlinie zu Sanktionen bei Nichteinhaltung der Mindeststandards für Personal greifen zum Beispiel erst 2022. An dieser Stelle ist die PPP-RL bisher ein Papiertiger. ver.di hat außerdem moniert, dass die alten Zahlen der Personalverordnung Psychiatrie (Psych-PV) von 1990 weitgehend wieder verwendet worden sind und man sich nicht darum gekümmert hat, was leitlinien- und bedarfsgerecht verändert werden muss. Diesbezüglich ist nichts passiert; es gibt bis jetzt keine neuen Minutenwerte. Ich erwarte, dass diese jetzt erarbeitet werden. Erst am Ende werden wir sehen, wie sie aussehen und ob sie den Anforderungen genügen.
Warum wurden die alten Zahlen zum großen Teil übernommen?
Aus unserer Sicht – weil man sich auf neue, bessere Lösungen nicht verständigen konnte. Im GBA treffen ja Vertreter*innen von Krankenkassen und Krankenhäusern aufeinander, also zwei stark von zum Teil gegensätzlichen Interessen geleitete Gruppen. Sie sind stimmberechtigt und entscheiden demnach, während Fachverbände und Patient*innenvertretung nur eine beratende Stimme haben. In dieser Konstellation ist es nicht gelungen, sich auf ein neues Personalbemessungssystem zu einigen.
Ich hätte vermutet, dass es darum geht, wie viel Personal es für eine gute Behandlung der Patienten braucht.
Das ging vielen Beschäftigten so wie Ihnen. ver.di kritisiert die Richtlinie deshalb an mehreren Stellen sehr konkret. Vor allem ist sie aus unserer Sicht unvollständig und unzureichend. Da sie den Personalbedarf nicht vollständig regelt, verlagern sich Entscheidungen über die Personalausstattung die Krankenhäuser in die Budgetverhandlungen auf lokaler Ebene. Begründet hat der GBA das damit, dass er weder Ausfallzeiten berechnen noch den gesamten Personalbedarf mit Leitungspersonal, Querschnittsbedarfen und anderen Gruppen festlegen könne. Da war der Auftrag des Gesetzgebers unscharf formuliert. Das rächt sich.
Was kritisieren Sie also an dieser Stelle? Wie hätte man es besser machen können?
Wir brauchen eine vollständige Personalbemessung, die auch ausfinanziert wird – inklusive der oben genannten Bedarfe. Und die Richtlinie muss den gesamten Personalaufwand abbilden. Man hätte z.B. die 1:1-Betreuung, die in den vergangenen Jahren stark angestiegen ist, viel stärker berücksichtigen müssen. Da geht es um Patient*innen, die akut selbst- oder fremdgefährdend und aggressiv sind. Das führt, wenn es nicht gelingt, rechtzeitig zu deeskalieren, zu Zwangsmaßnahmen, wie festhalten, isolieren, bis hin zu Zwangsfixierungen. Solche Maßnahmen können durch eine angemessene, respektvolle Behandlung und ein Eingehen auf die Betroffenen sehr häufig vermieden werden. Allerdings braucht es dafür Zeit, Ruhe und Fachqualifikation. Diese Arbeit ist in den Minutenwerten, die die Richtlinie vorgibt, überhaupt nicht ausreichend abgebildet.
Wenn ich also eine bedarfsgerechte Behandlung will, brauche ich mehr Personal als die Richtlinie jetzt vorsieht. Dieses Mehr müssen die Kliniken jetzt in die lokalen Budget-Verhandlungen einbringen, was diese sehr erschwert. Diese Mehrbedarfe hätte der GBA regeln können; auch Regelungen zur Berechnung der Ausfallzeiten müssen klar vorgegeben werden – ob im Gesetz oder in der Richtlinie. In den lokalen Budgetverhandlungen ginge es dann nur noch darum, Berechnungen anhand vorhandener Zahlen anzustellen und diese gegebenenfalls zu überprüfen.
Die Gewerkschaft ver.di hat kritisiert, dass die geplanten Sanktionen bei Unterschreitung der in der Richtlinie festgelegten Mindestzahlen an Personal, zu spät greifen, unklar formuliert sind oder in eine falsche Richtung wirken. Nun sind sie auch noch verschoben worden. Wie versucht man das zu rechtfertigen? Gibt es keine geeigneten Leute auf dem Arbeitsmarkt? Ist die einerseits berechtigte Forderung nach mehr Personal also andererseits nicht erfüllbar?
Vordergründig wird die Verschiebung mit der Pandemie begründet. Kliniken könnten in der aktuellen Lage keinen Personalaufbau vornehmen, die Belegungszahlen schwankten zu stark. Das macht es tatsächlich schwierig. Aber man hätte sich natürlich auch an den Belegungszahlen von 2019 orientieren und schon jetzt Sanktionen in Kraft setzen können. Fakt ist: die Krankenhäuser und ihre Vertretung im G-BA, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, versuchen jegliche Sanktionen auch unabhängig von Corona zu verhindern.
Es gibt also keinen Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt?
Im Moment ist es vielerorts schwierig, Fachpersonal zu finden. Aber das ist keine Naturkatastrophe, sondern hat Ursachen. Es wird außer Acht gelassen, dass man mit der Situation, die es in den Kliniken gibt – also die permanente Überlastung – , genau diesen Fachkräftemangel immer weiter verstärkt. Leute gehen aus dem Beruf raus, andere verabschieden sich von dem ursprünglich gehegten Berufswunsch, wenn sie mitbekommen, worauf sie sich da einlassen. Eine Befragung von ehemaligen Pfleger*innen in Bremen hat jetzt gezeigt: Es existiert ein relativ großes Potenzial von Rückkehrwilligen (allein in Bremen 1500), wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Die wichtigsten Faktoren sind der Befragung zufolge eine bessere Wertschätzung der Arbeit, die sich vor allem in der Bezahlung ausdrückt, sowie mehr Zeit für eine qualitativ hochwertige Pflege. Nach meiner Erfahrung bleiben Überlastung und Entlastung Grundthemen. Viele Beschäftigte fragen sich nicht nur „Was kann ich aushalten?“, sondern immer öfter auch „Was will ich aushalten?“ Sie wollen in dem System nicht mehr mitspielen, weil es aus ihrer Erfahrung nicht das richtige ist, weil sie nicht so arbeiten können, wie sie sich das mal vorgestellt haben – im Interesse der Patient*innen, und ihren eigenen Wertvorstellungen treu bleibend.
Gibt es aus Ihrer Sicht jenseits der kontinuierlichen Anpassung der PPP-RL Handlungsoptionen, um den Beschäftigten in psychiatrischen Einrichtungen zu besseren Arbeitsbedingungen und den dort zu 30 bis 40 Prozent zwangsweise untergebrachten Patient*innen und einer fachlich wie auch ethisch gut vertretbaren Behandlung gemäß der geltenden Leitlinien zu verhelfen?
Wenn wir wollen, dass sich auf politischer Ebene etwas ändert, dann müssen Beschäftigte in Psychiatrischen Krankenhäusern Veränderungen entschieden einfordern. Das können sie z.B. in der Gewerkschaft. Das können sie auch, indem sie sich schlau machen und unsere Schulungsangebote zur PPP-RL wahrnehmen. Es gibt inzwischen auch schon gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte, die von sich aus Mindest-Personalbesetzungen einfordern. Die Zentren für Integrative Psychiatrie (ZiP) in Schleswig-Holstein sind zusammen mit dem Universitätsklinikum in eine Tarifbewegung gegangen. Mindestbesetzungen wurden dort in einem Tarifvertrag festgelegt, um die Kolleg*innen vor Überlastung zu schützen. Dort, wo Kolleg*innen dazu entschlossen sind und sich entsprechend gut organisiert haben, unterstützen wir sie gern darin. Aber eigentlich geht es ja um leitliniengerechte Versorgung in allen Kliniken. Das ist eine Aufgabe für den Gesetzgeber, das für alle Krankenhäuser zu regeln. Es sollte nicht von tariflichen Regelungen abhängig sein, ob ich gut versorgt werde, wenn ich krank bin. Dafür setzen wir uns politisch ein, z.B. mit Aktionen wie dem Versorgungsbarometer (versorgungsbarometer.verdi.de)
Die Richtlinie lässt viel Spielraum für den Einsatz von Hilfskräften. Wie beurteilen Sie das?
Wir sehen das sehr kritisch. Leider versäumt die Richtlinie, diese Hilfskräfte überhaupt klar zu definieren. Das ist vor allem in der Pflege ein Thema. Sie können – so die Erfahrung aus den vergangenen Jahren, in denen zunehmend Hilfskräfte eingesetzt wurden, – über ganz unterschiedliche Qualifikationen verfügen. Manche wurden einjährig ausgebildet, andere zweijährig; es gibt sogar 6-Wochen-Kurs-Absolventen. Gleichzeitig arbeiten auf den Stationen Hilfskräfte, die durch jahrelange Erfahrung viel gelernt haben und vielleicht auch eine besondere Eignung mitbringen. Sie leisten eine sehr gute Arbeit und stellen große Stützen für die Stationen dar. Aber grundsätzlich fordern wir eine ganzheitliche Versorgung, die am besten durch Fachkräfte gewährleistet werden kann.
Was wir brauchen, ist eine klar vorgegebene Zahl examinierter Fachkräfte, am besten mit dreijähriger Ausbildung, im Idealfall mit psychiatrischer Zusatzqualifikation. M.E. wäre es auch wichtig, in der Richtlinie eine Quote für die Fachweiterbildung z.B. der Pflegekräfte zu verankern. Die Vorstellung, eine gut ausgebildete Kraft genüge, um die weniger qualifizierten ausreichend anzuleiten, funktioniert in der Psychiatrie noch weniger als in anderen Bereichen. Es geht ja um Beziehungsarbeit. Damit muss man sich auseinandergesetzt haben, z.B. in der Ausbildung, wenn es professionell ablaufen soll.
Unsere Forderung ist daher, auf Hilfskräfte perspektivisch zu verzichten und für die, die bereits da sind, Übergangslösungen zu schaffen, z.B. Weiterbildungen zu ermöglichen. Neu Eingestellte sollten in jedem Fall Fachkräfte sein. Die PPP-RL sieht vor, dass es 5-10 % Hilfskräfte geben kann, und das werden die Häuser mit Sicherheit ausschöpfen. Die Krankenhausbetreiber haben sogar um deutlich höhere Prozentsätze und/oder längere Übergangsfristen gerungen, weil in vielen Kliniken derzeit weit mehr als 5-10 % beschäftigt sind.
Das bringt mich nochmal zum GBA zurück. War womöglich schon der Auftrag an den GBA zur Erarbeitung einer neuen Personalrichtlinie ein Fehler?
Wir sehen den Auftrag an den G-BA zur Erstellung einer solchen Richtlinie grundsätzlich kritisch. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers und eine politische Frage, wie wir gute psychiatrische Versorgung organisieren und eben auch finanzieren wollen. Das kann man nicht wegdelegieren.
Zudem war der Auftrag unglücklich formuliert. Der GBA hat ihn so interpretiert, dass er nur Mindeststandards festlegen darf und nicht, welche Personalausstattung tatsächlich zu finanzieren ist, damit man diese Mindeststandards überhaupt einhalten kann.
Aber spätestens bei der Vorlage des Entwurfs hätte man doch dieses Manko feststellen können.
Im Prinzip ja. Allerdings erteilt das Parlament den Auftrag, das Gesundheitsministerium prüft dann, ob die Richtlinie dem Auftrag entspricht. Es hat in diesem Fall ein paar Dinge angemerkt, die zum Teil in die Überarbeitung eingeflossen sind. Eine normative Überprüfung, ob das, was herausgekommen ist, mit dem übereinstimmt, was vom Gesetzgeber gewollt war, gehört aber nicht zum Prozedere. Aus der Sicht von ver.di müsste der Bundestag oder mindestens sein Gesundheitsausschuss diese Prüfung vornehmen. Ich habe den seinerzeit erteilten Auftrag jedenfalls anders verstanden, denn die Richtlinie führt nicht zu einer bedarfsgerechten Personalausstattung.
Wenn der GBA jetzt kontinuierlich die Weiterentwicklung der PPP-RL betreibt, bleiben künftige Entscheidungen in den gleichen interessengeleiteten Händen mit absehbaren Folgen?
Das wird so sein. Deshalb denke ich: Für die normative Frage „Wie gut soll die Personalausstattung in der Psychiatrie sein“ ist der GBA mit den Eigeninteressen seiner Mitglieder nicht geeignet; er war es in den zurückliegenden Jahren nicht und wird es auch in Zukunft nicht sein. Es geht um sehr viel Geld, aber eben auch um eine gute Behandlung von schwer kranken Patient*innen.
Sie fürchten die Sicht profitorientierter Anbieter?
Es ist problematisch, wenn das Profitinteresse im Mittelpunkt steht. Das hat in einem fast ausschließlich aus öffentlichen und Versichertengeldern finanzierten System nichts zu suchen. Allerdings zwingt das gegenwärtige Finanzierungssystem mit dem PEPP-System als Abrechnungssystem und der kontinuierlichen Unterfinanzierung der Investitionskosten auch die öffentlichen und frei gemeinnützigen Träger, das betriebswirtschaftliche Denken an erste Stelle zu setzen, mit den entsprechenden Folgen. Niemand ist dagegen, dass Geld vernünftig verwaltet wird und keine unnötigen Kosten verursacht werden. Wenn der Kostendruck aber zulasten der Patientenversorgung geht und dann noch Gewinne herausgezogen werden, ist dasam Ende für die Versicherten nicht günstiger.
Wir fordern deshalb das notwendige Personal und das Geld für dieses Personal. Und dieses Geld muss dann auch für dieses Personal ausgegeben und nicht anders verwendet werden. Da hat der Bundestag eine Verantwortung, die er in diesem Fall an den GBA abgegeben hat. Das ist keine gute Lösung, denn dafür eignet sich der GBA nicht. Seine Aufgabe sollte eher die Umsetzung einer neuen Richtlinie sein, nicht deren Ausarbeitung.
Danke für das Gespräch