Vom Genuss negativer Gefühle

Psychologisches Erklärungsmodell für scheinbar paradoxes Phänomen

Die neuere Emotionspsychologie hat gezeigt, dass negative Gefühle die menschliche Aufmerksamkeit besonders stark binden, besonders intensiv erlebt werden und besonders stark in Erinnerung bleiben. Forscher des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik hat das inspiriert, genauer zu untersuchen, warum Menschen sich gern traurige Filme anschauen und negative, selbst Angst machende Emotionen bei der Betrachtung von Kunstwerken bewusst zulassen. Schließlich binden Künste ebenfalls Aufmerksamkeit, ermöglichen intensives Erleben und wollen erinnert werden. Herausgekommen ist ein umfassendes psychologisches Erklärungsmodell für dieses scheinbar paradoxe Phänomen.

Das in der renommierten Fachzeitschrift „Behavioral and Brain Sciences“ veröffentlichte psychologische Modell erklärt, warum Kunstwerke, die negative Emotionen hervorrufen, oft als intensiver, interessanter, emotional bewegender und weniger langweilig, ja sogar als schöner wahrgenommen werden können als ein reines Bad in positiven Gefühlen.

Das Modell enthält zwei Faktoren. Der erste Faktor war bereits gut untersucht: Wir ordnen die Wahrnehmung von Kunstwerken in eine andere Kategorie von Erlebnissen ein als die der alltäglichen Realität. Diese kognitive Distanzierung schafft eine Art Sicherheitsraum, in dem wir negative Emotionen erleben können.

Der zweite Faktor, das eigentliche Herzstück des neuen Modells, enthält auf dieser Grundlage mehrere Mechanismen, kraft derer negative Emotionen sogar positiv zur Kraftquelle intensiven Kunsterlebens werden können. Der erste wird aus der großen Bedeutung von Variation und Dynamik für ästhetisches Erleben abgeleitet: Künstlerische Kompositionen, die uns in Wechselspiele positiver und negativer Gefühle verwickeln, werden als abwechslungsreicher, spannender und interessanter wahrgenommen. Zudem haben gemischte Gefühle, die sowohl positive als auch negative Anteile enthalten, eine große Bedeutung für die Integration negativer Gefühle in die positive Betrachtungslust. So empfinden wir etwa tiefes emotionales Bewegtsein auch dann als positiv und lustvoll, wenn es traurige Gefühle enthält. Ebenso sind positiv erregende Gefühle von narrativer Spannung nicht ohne Gefühle von „Unsicherheit“, Sorge und Angst um Protagonisten zu haben.

Dazu kommt, dass auch die ästhetische Kraft der Darstellung selbst (z.B. die Schönheit der Musik, der Worte, der Sprache, Farben etc.) negative Emotionen sowohl intensiver als auch positiver erlebbar macht. Und schließlich kann die Suche nach einer Bedeutung ebenfalls in negativen Gefühlen etwas Positives entdecken.

Das scheinbare Paradox, warum negative Emotionen zur Lust an Kunstwerken gehören, wird also erklärt, indem neue Erkenntnisse der Emotionspsychologie mit grundlegenden Prinzipien ästhetischer Wahrnehmung zusammen gedacht werden. Die Ergebnisse zeigen nicht nur, warum bestimmte Kunstgattungen wie Tragödien, Horrorfilme oder Melodramen gefallen. Sie identifizieren vielmehr grundlegende psychologische Mechanismen, die der Wahrnehmung von Kunstwerken oder Medienprodukten überhaupt zugrunde liegen.

Originalpublikation:

Menninghaus, W., Wagner, V., Hanich, J., Wassiliwizky, E., Jacobsen, T., & Koelsch, S. (2017). The Distancing–Embracing model of the enjoyment of negative emotions in art reception. Behavioral and Brain Sciences, 1-58. doi:10.1017/S0140525X17000309