Gehirn bewertet Verlässlichkeit von Sinneswahrnehmungen

Subjektiver Wahrnehmung wird mehr vertraut als der Wirklichkeit

Dass unsere Wahrnehmung bisweilen nicht der Realität entspricht, weiß man schon länger. Dass wir dies nicht nur unterbewusst hinnehmen sondern die eigene gegebenenfalls unrichtige Wahrnehmung im Vergleich zu verlässlichen Informationen sogar bevorzugen – das überrasche selbst Forscher der Universität Osnabrück, die dazu eine Studie durchgeführt haben. Sie machten sich dabei das Phänomen des Blinden Flecks im Auge zunutze.

„Um im alltäglichen Leben zurechtzukommen, müssen wir ständig mehrere Sinneseindrücke nach ihrer Verlässlichkeit beurteilen und gewichten“, erklärt der Leiter der Studie, Prof. Dr. Peter König vom Institut für Kognitionswissenschaften. „Wenn wir beispielweise eine Straße überqueren, so verlassen wir uns bevorzugt auf unseren Sehsinn. Dagegen würden wir an einem nebligen Tag, mit eingeschränkter Sichtbarkeit, stärker auf den Verkehrslärm achten, also die akustischen Informationen als verlässlicher einstufen. Unser Gehirn bewertet also die Verlässlichkeit von Sinneswahrnehmungen.“

Wie geht es aber mit lückenhaften Informationen um? Hier kommt der Blinde Fleck ins Spiel: wir sehen, indem die Lichtreize von der Außenwelt auf die Sehzellen in der Netzhaut des Auges gelangen. Dort, wo sich die Austrittstelle des Sehnervs befindet, gibt es aber keine Sehzellen; folglich können wir dort keine Informationen sammeln. Dies entspricht dem Blinden Fleck, den jeder im Auge hat, der aber nicht wahrgenommen wird.

„Im Fall des Blinden Flecks vervollständigt unser Gehirn automatisch die fehlende Information, indem es auf die Inhalte der benachbarten Stellen zurückgreift. Dadurch fällt uns keine Lücke auf“, erläutert Prof. König. Dieses Vervollständigen durch das Gehirn, auch ‚filling-in‘ Effekt genannt, sei zwar ausreichend im Alltag, aber darüber hinaus unzuverlässig. Faktisch kämen keine direkten visuellen Informationen von der Außenwelt im Gehirn an. „Doch ob wir uns überhaupt bewusst sind, dass so eine Information nicht vertrauenswürdig ist, war bisher vollkommen unklar.“

Zur Klärung wurde eine Studie mit 100 Probanden durchgeführt, welche zwei Kreise vergleichen sollten, die physikalisch unterschiedlich waren aber wegen des Blinden Flecks als gleich wahrgenommen wurden. Die Aufgabe bestand darin, denjenigen Kreis auszuwählen, der durchgängig gestreift war. „Wir hatten angenommen, dass sich die Probanden, da sie ja vom Blinden Fleck nichts wussten, gleich häufig für den einen und den anderen Kreis entscheiden oder bevorzugt den lückenlosen, wirklich durchgängig gestreiften auswählen würden,“ erklärt der Erstautor Benedikt Ehinger, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück. Herausgekommen ist aber genau das Gegenteil: „Die Probanden wählten bevorzugt den Kreis aus, der teilweise im blinden Fleck angezeigt wurde, also nicht den, den sie tatsächlich zu hundert Prozent sehen konnten. Das war ein verblüffendes Ergebnis.“

Anders gesagt: Wenn im Gehirn die verschiedenen bildlichen Sinneseindrücke verglichen werden, genießt die vom Gehirn selbst interpretierte bildliche Information eine höhere Vertrauenswürdigkeit als der tatsächlich gesehene Sinnesreiz. Nach diesem Ergebnis stellen sich neue spannende Fragen: Lässt sich dieses Effekt auch bei anderen vom Gehirn konstruierten Sinneseindrücken, zum Beispiel bei visuellen Illusionen beobachten? Wie genau wird die Verlässlichkeit gewichtet? Was sind die genauen Mechanismen wonach im Gehirn die Entscheidungen getroffen werden ausgehend von den verschieden zuverlässigen Sinneseindrücken?

Kontakt

Prof. Dr. Peter König, Universität Osnabrück,
Institut für Kognitionswissenschaft,
Abteilung Neurobiopsychologie,
T 0049 541 969 2399
E peter.koenig@uni-osnabrueck.de