Wenn jede Orientierung verloren geht

Jürgen Hille beim Landestag der Psychologie in Stuttgart

Was trägt man heute? Was ist ein richtiger Mann? Finde ich die Richtige, nachdem ich über die Webseite tinder.de mit unzähligen Frauen Kontakt hatte und mit hundert oder mehr geschlafen habe? Warum klagen Klienten, sie fühlten sich nach solchen Dates immer so hohl? Gibt es vielleicht eine noch interessantere Berufsausbildung als die vor Kurzem begonnene? Sollte man die jetzige nicht lieber abbrechen und sich ausprobieren?
Mit dieser und vielen Fragen mehr konfrontierte Jürgen Hille beim Landestag der Psychologie in Stuttgart am 9. Juli die Teilnehmer seines Workshops unter dem Titel „Gesundheit und Isolation unter Bedingungen gesellschaftlichen Wandels“. Änderungen in der Gesellschaft, so seine These, formatierten die Psyche neu. Das gelte für familiäre Beziehungen genauso wie für die Arbeitswelt. Orientierung gehe überall verloren und lasse Menschen in einer ent-traditionalisierten Gesellschaft zurück. Dieser Wandel sei ambivalent, habe einerseits durchaus etwas Befreiendes, wenn Frauen oder Männer z.B. keine eng definierte Rolle auszufüllen haben, Scheidungen nicht zur Ausgrenzung führen oder Berufstätigkeit an verschiedenen Orten dieser Welt ausgeübt werden kann. Andererseits empfinden viele diese Freiheit als Unsicherheit – und das nicht nur in der Generation Praktikum. Bei Menschen mit einem Identitätsproblem führe die Entgrenzung, die wir nicht nur durch offene Grenzen in Europa, sondern in vielen Lebensbereichen erleben, zu veritablen Ängsten. „Das zeigt sich auch an der Angst davor, dass die Politik keine Lösungen für all die Menschen haben wird, die aus anderen Regionen der Erde nach Deutschland fliehen, sowie an der Angst, wohin sich unsere Gesellschaft rasant entwickeln wird.“
Hille erinnerte an die Zahl derer, die ihr Geld nicht mehr in einem Normalarbeitsverhältnis verdienen, an Beschäftigte mit befristeten Arbeitsverträgen, Leiharbeiter, Minijobber und Aufstocker. „In vollem Umfang wird die Krise des Erwerbssystems erst sichtbar, wenn man die individuellen Biographien betrachtet.“ Fachleute gingen davon aus, dass von denjenigen, die heute in Deutschland einen beruflichen Abschluss erlangen (in Form von Lehre, Schule oder Studium), nicht einmal mehr die Hälfte eine normale Erwerbskarriere (tariflich bezahlte Vollzeitbeschäftigung vom Abschluss der Ausbildung bis zum Erreichen der Altersgrenze) vor sich hat. Diskontinuierliche Erwerbsverläufe und Patchworkbiographien mit vielfältigen Brüchen und Übergängen würden zunehmend zur Normalität – zum Teil auch mit Folgen für die psychische Gesundheit. Hille zitiert Ulrich Beck, der in diesem Kontext von einer „Brasilianisierung der Arbeitswelt“ spricht. Sehr kritisch sieht er auch den schönfärberisch als flexibel beschriebenen Arbeitsmarkt, der zu vielen Ortswechseln zwingt, und verweist auf Richard Sennett, demzufolge die Grenze der Mobilität erreicht sei. „Menschen schaffen so viele Wechsel nicht, es kommt zu Bindungs- bzw. Verlustproblemen“, ergänzt Hille.
Den Verlust von Sicherheit spürten besonders alleinerziehende Frauen. 40 Prozent der Kinder in Deutschland, so Hille, wachsen inzwischen ohne Vater auf. Folgen habe das sowohl für die Kinder als auch für die Frauen. Letztere überfrachteten ihr Kinder häufig mit Erwartungen, weil es der einzige Fixpunkt im Leben sei. „Pädagogische Ansprüche explodieren.“
Theoretisch könnten Psychologen angesichts der vielen Beratungs- und Therapiebedürftigen als Folge der Veränderungen in der Postmoderne sich sicher fühlen, gibt es absehbar doch Arbeit im Überfluss. Doch sind auch sie Teil der Veränderungen und damit ebenso Betroffene, die der Unterstützung und der Vernetzung bedürfen, um den Halt nicht zu verlieren.
Kaum ein anderer Workshop löste so viele Diskussionen bis in die Pause hinein aus wie dieser. Bedürfte es eines Beweises, warum gerade in diesen Zeiten ein Berufsverband wie der BDP vonnöten ist – diese Veranstaltung hätte ihn geliefert.